Mobilitätswende vs. Baumpflanzungen: Klima-Dilemma Alserbachstraße

Die Baumoffensive der Stadt kommt dem Ausbau der Radinfrastruktur in die Quere. Die Umgestaltung der Alserbachstraße im 9ten Bezirk zeigt diesen Konflikt. Ein umfassender Bericht.

KAPITEL 1: Der “Thrill-Ride”

Schmalspurlösung Mehrzweckstreifen

Die Alserbachstraße ist nicht nur für den Autoverkehr eine Hauptroute, sondern auch eine der wichtigsten Radverbindungen Wiens. Vor 20 Jahren wurde hier ein Mehrzweckstreifen eingerichtet – ein Straßennutzungskonzept, das bis heute vielen unbekannt ist. Während ein Radfahrstreifen links durch eine Sperrlinie vom übrigen Straßenverkehr getrennt wird, erkennt man den Mehrzweckstreifen an einer unterbrochenen Linie (Leitlinie). Der Mehrzweckstreifen (MZS) kommt dort zum Einsatz, wo die Fahrbahnbreite für einen reinen Radfahrstreifen nicht ausreicht.

Der MZS, der auch mit Fahrradsymbolen gekennzeichnet ist, ist grundsätzlich für Radfahrer vorgesehen, darf aber auch von anderen Fahrzeugen benutzt werden – unter der Voraussetzung, dass der Hauptfahrstreifen nicht breit genug ist. Die Straßenverkehrordnung schreibt jedenfalls vor, dass bei der Befahrung besonders auf die Radfahrer geachtet werden muß.

Gefahrenquellen Überholabstände und “Dooring”

Besonders auf halber Höhe der Alserbachstraße ist die Fahrbahnbreite eingeschränkt. Hier erklärt Roland Romano, Sprecher der Radlobby Wien, die problematische Situation: Autos und Radfahrer werden in einer Mischverkehrsform auf der selben Fläche abgewickelt. Auf dieser schmalen Fläche zwischen rechts abgestellten Autos und links einer Straßenbahntrasse gehen sich Sicherheitsabstände nicht aus. Die Leitlinie des Mehrzweckstreifens suggeriert, man hat genug Platz, nebeneinander zu fahren, aber tatsächlich geht es sich nicht aus.

“Wenn dann ein kleiner Fehler passiert, sind sofort schwere Unfälle die Folge.”

Roland Romano, Sprecher der Radlobby Wien

Aufgrund der fehlenden Überholabstände widersetzen sich Autofahrer laufend der Straßenverkehrsordnung (“Fotobedingt” weicht der Transporter auf den Gleiskörper aus, um den Überholabstand von 1,5m einzuhalten). Zusätzlich ist das “Dooring” – die Kollision mit plötzlich öffnenden Autotüren eine Gefahrenquelle. Die Radlobby empfiehlt Radfahrern einen Sicherheitsabstand von 1,2m zu parkenden Autos – das wird von Autofahrern allerdings mißverstanden und mit Beschimpfungen und Bedrängungen “honoriert”.

Im Test des Standard der wichtigsten Radwege Wiens zählt die Strecke zu den "Thrill-Rides" -  "eine Radstrecke, die ihrem Benützer alles abverlangt: Kondition, Wagemut, Durchsetzungsvermögen, höchste Aufmerksamkeit und eine gehörige Portion Schneid." 

Mobilitätswende braucht sichere Radinfrastruktur

Ohne Mobilitätswende kann Klimaschutz nicht gelingen, sind Experten überzeugt. Damit möglichst viele Menschen das Rad im Alltag nutzen, braucht es eine sichere und qualitative Radinfrastruktur. Seit 2 Jahren stagniert der Anteil der Radfahrer wienweit bei 7%. Romano erklärt dies anhand der Typologie der Radfahrer: 1% fährt berufsbedingt (Kurierdienste) immer, weitere 6% sind überzeugte Radfahrer, die den vorhandenen Raum nutzen. Ziel ist es, die breite Masse von 60% zu erreichen, die eine positive Einstellung zum Radfahren haben, aber Studien zufolge eine sichere Umgebung benötigen.

Befragt nach einem Lösungsansatz für die Alserbachstraße meint Romano: Tempo 30 und man bräuchte Platz für ein Nebeneinander. Dieser ist derzeit belegt durch eine Längsparkspur fast über die gesamte Länge. Und: durch die Neugestaltung wird dieser Zustand hier einbetoniert.

KAPITEL 2: Die Neugestaltung 2017-2020

Schon lange kämpft die Alserbachstraße mit Geschäftssterben und einer zunehmenden Abwertung. Die Durchzugsstraße soll nun zu einer “Flanier- und Verweilmeile” werden. Ein wesentlicher Punkt der Neugestaltung ist die Attraktivierung des Straßenraums durch neue Bäume und Verweilzonen. Die Lokale Agenda Alsergrund hat dazu das Gestaltungskonzept Alserbachstraße entworfen, das seit 2017 schrittweise umgesetzt wird.

Die Verweilzonen und Baumpflanzungen sind großteils schon umgesetzt, lediglich der Abschnitt zwischen Simon-Denk-Gasse und Marktgasse fehlt noch. Hier steht noch ein Gerüst mit Außenlift bei einem Neubau. Wie der Vorsitzende der Alsergrunder Verkehrskommission, Christian Kaizar, erklärt, soll dieses im Frühjahr 2020 entfernt werden, dann folgt die Pflanzung von Jungbäumen in diesem Abschnitt. Die Neugestaltung ist damit praktisch abgeschlossen.

Hitzeinsel Alserbachstraße

Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen ist die Neugestaltung der Alserbachstraße forciert worden. Als Ost-West-Verbindung ist die Strecke im Sommer durchgängig der prallen Sonne ausgesetzt. Die bislang baumlose Straße war daher prädestiniert für die Pflanzung von Bäumen. Bis diese Schatten spenden, wird es allerdings noch dauern.

Neben der Reduktion von Hitzeinseln binden Bäume Kohlendioxid, produzieren Sauerstoff und filtern Staub aus der Luft – die Baumoffensive der Stadt ist daher gerade im innerstädtischen Bereich eine Notwendigkeit.

Bäume brauchen mehr Platz als gedacht

Die Baumscheiben für Jungbäume scheinen oft überdimensioniert zu sein und da kommen schon Gedanken auf, ob man diese nicht kleiner machen kann, damit z.B. die Radinfrastruktur mehr Raum bekommt.

So geschehen aktuell in der Lazarettgasse, wo Baumscheiben mit einer Abmessung von 5×1,2m errichtet werden. Dies erzürnt die Grünen am Alsergrund. Christa Schmid, Bezirksrätin und Landschaftsökologin, erklärt in einem umfassenden Artikel, warum bereits in der Pflanzphase Baumscheiben mindestens 9m2 groß und 1,75m tief sein müssen. Sie schreibt, dass “eine Faustregel besagt, dass ein durchschnittlicher Baum in etwa das gleiche Volumen an Wurzelraum braucht wie die Baumkrone.” Nur so ist das Überleben und Erreichen einer höheren Alters sichergestellt.

KAPITEL 3: Aus dem Dilemma das Beste machen

Es scheint, als ob in der Raumverteilung der Radverkehr den Kürzeren gezogen hat. Dennoch gibt es Verbesserungspotential für Sicherheit der Radfahrer. Vor allem 3 Punkte stechen hervor: die ausstehende Umsetzung von Tempo 30 (wurde bereits beschlossen), die mangelhafte Bodenmarkierung und der neuralgische Punkt beim Fußgängerübergang bei der Markthalle, der schon im Fokus des Standard-Tests im Jahr 2005 war.

Die ausgelutschte Bodenmarkierung

Bei 10.000 Fahrzeugen, die die Alserbachstraße täglich nutzen, wird auch die Bodenmarkierung gestresst. Neben diesen Abnutzungserscheinungen fehlt diese nach den Umbauarbeiten oft gänzlich oder es verbleiben Altlasten, die entfernt werden sollten. Schlußendlich gibt es die Möglichkeit, kritische Stellen durch einen roten Straßenbelag zu kennzeichnen und dadurch für mehr Verkehrssicherheit zu sorgen. Der status quo:

Stellungnahme der MA28 zur Anfrage betreffend Bodenmarkierung:

Die Aufenthaltsqualität in der Alserbachstraße soll durch die Errichtung von Aufenthaltsbereichen mit Sitzgelegenheiten und Baumpflanzungen erhöht werden. Seit 2017 wird daher die Alserbachstraße im Abschnitt zwischen Nußdorfer Straße und Spittelauer Lände – in Abhängigkeit des Bezirksbudgets – abschnittsweise umgestaltet.               
Das bedeutet auch, dass die Bodenmarkierungen sukzessive erneuert bzw. ggf. aus bautechnischen Gründen ummarkiert werden.

Rote Markierung der kritischen Stellen

Wie auf einigen Straßen praktiziert, können kritische Stellen auch mit einer roten Bodenmarkierung gekennzeichnet werden. Auch auf der stadteinwärts gerichteten Seite der Alserbachstraße findet sich im Kreuzungsbereich zur Lände eine solche Kennzeichnung. Gerade bei Fahrbahnwechsel, die Radverkehrsanlagen schneiden, wäre so eine Kennzeichnung angebracht. In der Liechtensteinstraße ist eine Lösung zu finden.

Für rotflächige Markierungen ist übrigens die MA46 – Verkehrsorganisation und technische Verkehrsangelegenheiten zuständig. Grundsätzlich kann die Behörde von sich aus tätig werden, es kann aber auch auf Wunsch des Bezirks geprüft werden. Diese antwortet auf eine entsprechende Anfrage betreffend Erhöhung der Verkehrssicherheit in der Alserbachstraße wie folgt:

“Derzeit sind bei den genannten Örtlichkeiten keine flächigen Rotmarkierungen geplant. Wir werden jedoch Ihren Hinweis in die nächste Besprechungsrunde dazu hineinnehmen.”

Neuralgischer Punkt Alserbachstraße / Markthalle

Der gefährlichste Punkt entlang der Alserbachstraße findet sich beim Fußgängerübergang auf Höhe Markthalle. Der Standard widmet der Stelle einen eigenen Absatz im Radroutentest 2005 (!): “Hat man diese Wegstrecke einmal überstanden, wartet schon das nächste Gustostückerl auf den nun mit dem nötigen Adrenalin versorgten Radfahrer: Denn plötzlich führt ihn der Mehrzweckstreifen ungewollt Richtung Fahrbahnmitte und alsbald links an einer Rechtsabbiegespur vorbei. Der neuralgische Punkt ist an der Kreuzung Alserbachstraße/Nußdorfer Straße erreicht: Hier findet man sich nicht nur eingepfercht zwischen Autos und Bussen wieder, sondern gerät überdies in den den toten Winkel von Rechtsabbiegern. Hier spießt es sich also gehörig.”

Die Stelle ist vielen ein Dorn im Auge. Auch für KFZ-Lenker eine absolute Stresssituation, vor allem, wenn der Rechtsabbiegeverkehr schon bis zum Fußgängerübergang rückstaut. Meist stehen Fahrzeuge dann mitten auf dem Mehrzweckstreifen – Radfahrer müssen sich dann durchwursteln.

Der Vorsitzende der Alsergrunder Verkehrskommission, Christian Kaizar (SPÖ), konnte am Telefon erreicht werden und wurde mit dem breiten Anliegen nach Entschärfung dieser speziellen Gefahrensituation konfrontiert.

Die Antwort wird zahlreiche Verkehrsteilnehmer freuen: Er sagte spontan die Behandlung des Themas in der kommenden Verkehrskomission am 26.11.2019 zu.

Fazit: wie intensiv der Nervenkitzel 2020 wird, wird sich zeigen.

alle Fotos (c) Weißenbäck

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